Snowden, Luther und das Web 2.0

PRISM

Knapp 500 Jahre nach Luther’s Thesenanschlag stellt dieser Mann unser aller Verhältnis zum Internet auf den Kopf: Edward Snowden. Webagenturen und Freelancer, auch im Umfeld von WordPress, schweigen dazu. „Business as usual“, wird praktiziert. Und das wundert mich. Da beweist einer, dass die Luft, von der wir alle leben, vergiftet ist – und wir atmen kommentarlos weiter?

Denn aus Snowden’s Offenlegungen folgt ohne weiteres, dass die Web-2.0-Technologien inzwischen zu Bespitzelungstechnologien mutiert sind, die weltweit in Millionen von Websites injiziert wurden. Natürlich geht es im Web um Vernetzung. Kaum eine Webseite wird heutzutage aufgerufen, ohne dass es rauscht im Protokollwald von mindestens drei, vier externen Servern, zumeist in den USA. Wir bezahlen diese Vernetzung mit der meist bedenkenlosen Weitergabe personenbezogener Daten unserer Besucher. Doch nach Snowdens Enthüllungen daran nichts zu ändern, kommt mir verantwortungslos vor.

Snowden zeigt, was Internet heute in Wahrheit ist: eine perfekte, globale Laborversuchsanordnung für Klick-Ratten. Wir zeigen darin mit jedem Seitenaufruf, jeder Suchanfrage, jedem Tapp auf ein „Like“, was wir gerade mögen und was uns beschäftigt, wie intensiv es uns beschäftigt und mit wem wir Kontakt haben, wann sich diese Kontakte bei welchen Themen intensivieren, wie Freundschaften entstehen, wie diese andere Kontakte beeinflussen, ja und wie sie wieder zerbrechen und welche Bilder und Videos wir dazu drehen. Eine allumfassende, global-psychologische Installation, die die Reaktionen der modernen Menschen und ihre Vorhersehbarkeit ausforscht und sie nach Auswertung einer Unmenge an Information so manipulierbar macht wie Treibvieh.

Das alles wird nicht einmal abgestritten. Der Begriff “Terror” zur Begründung dieser Überwachung ist dabei der große Ablasshandel der heutigen Zeit. Ich bin sicher: sollte Snowden auspacken, was zu diesem Thema noch so auf seinen Festplatten liegt, dann erst werden wir wissen, was das Entsetzen wirklich ist. „Terror“ ist ein überaus nützliches Angstargument, das jede Gegenstimme zum Schweigen und in den Parlamenten zur Zustimmung wider besseren Wissens zwingt. Vom Terror der Kriege im Namen der Freiheit hören wir nichts. Oder dem Terror der Waffenexporte und angeheizten Bürgerkriege. Wieviele Milliarden werden hier zur “Bekämpfung” ausgegeben?

Wenn nicht zur Terrorbekämpfung, wozu dient dann das Ganze?

Ich kann nur das beherrschen, dessen Gesetze ich verstehe. Deswegen gibt es überhaupt Wissenschaft: wir forschen die Natur aus, um sie zu beherrschen und auszubeuten. Wir wollen wissen, wo all die kleinen, uns zugänglichen Hebel mit der ganz großen Wirkung sitzen. Politiker forschen uns aus, damit sie wissen, wie sie die nächsten Wahlen gewinnen können. Das überrascht nicht wirklich, oder? Was dagegen überrascht, ist die Konsequenz in der Anwendung der Erkenntnisse, wenn das Eigeninteresse jede Ethik schon weit hinter sich gelassen hat. Diese Konsequenz lässt in ihrer Maßlosigkeit selbst die verstummen, die sonst immer laut „Verschwörungstheoretiker“ riefen.

Mikro- und Makrokosmos

Prism spioniert aus dem gleichen Grund, wie jeder kleine Website-Betreiber seine Kunden mittels Web Analytics auskundschaftet. Ich will die Reaktion auf das, was ich da online anbiete, beherrschen, ich will, dass Besucher mir gehorchen und kaufen. Dafür muss ich wissen, an welchen Schräubchen ich zu drehen habe, um dieses Ziel zu erreichen. Das Prism des kleinen Mannes heißt Web Analytics.

Wir sind in medias res. Alle diese kleinen, unentbehrlichen Web-Services, eingebundenen dezenten Werbetexte, wunderbaren Gratis-Webfonts, welche so bequem extern abrufbar sind und dabei oft lächerliche 4 Zeilen an CSS-Anweisungen enthalten, sorgen dafür, dass auf fremden Servern gespeichert wird, welche IP-Adresse wann, wo, woher kommend, womit und wie oft zugreift. Wer darüber nachdenkt, wird feststellen, dass vieles auch so gelöst werden kann, ohne dass wir uns und unseren Kunden trojanische Pferde in den Hof stellen.

Wer nicht bereit ist, auf Web Analytics zu verzichten, der versteht ganz gut, warum Prism von den US-Amerikanern nicht aufgegeben werden will. Solch ein Kontrollverlust ist nicht hinnehmbar! – Wirklich nicht? Das Schweigen der Webworking Companies: erklärt es sich so?

Was also tun?

Da es unsere eigene Macher- und Manipulierer-Natur ist, die uns Prismner dahin gebracht hat, wo wir jetzt sind, können wir Prism kein Ende machen, solange wir Prism selber sind. Der Impuls, sich gegen das Ausspioniertwerden aufzulehnen, entspringt dem gleichen Bedürfnis wie Prism selbst. Wir wollen die Kontrolle über unsere Freiheit und Nicht-Manipuliertheit haben. Ich will die Kontrolle über meine Privatsphäre. Und die Weltmacht USA will die Welt kontrollieren. Nur, da sind wir jetzt schon mindestens zwei, die die Kontrolle über meine Privatsphäre wollen. Hoppla.

Wir müssen also die Kontrolle aufgeben wollen. Die Kontrolle aufgeben heißt ganz konkret für Webworker-Freelancer und Webagenturen zweierlei:

  • all dieses Wanzenzeug aus den Websites zu entfernen, das die Beobachter füttert und harmlose Website-Besucher zu Versuchsmaterial im virtuellen Globallabor degradiert,
  • auf Web Analytics aus ethischen Gründen zu verzichten und unseren Kunden ihr Recht auf private Bewegung im virtuellen Raum, selbst auf unserer Website, zu lassen.

Schaut euch auf einer beliebigen Website an, was da im Firebug, Reiter „Netzwerk“ => „Alle“ so an Domains auftaucht. Alles, was nicht Heimat-Domain ist, hat dort nichts zu suchen. Ich persönlich halte nach meinen jetzigen Informationen jeden automatisierten Domain-Aufruf, der Server in den USA anspricht, für absolut problematisch:

„Solange es keine klaren Aktionen des Kongresses oder der Justiz gibt, kann ich nur jedem dringend davon abraten, private Daten einem Unternehmen anzuvertrauen, das direkte physische Verbindungen zu den Vereinigten Staaten hat.“

Lavabit-Gründer Levinson in einer Übersetzung des SPIEGEL

Das bedeutet: Verzicht auf Web Analytics, lokale Einbindung von Webfonts und lokale Avatare. Passive Social Buttons, also solche, die nicht per iframe sofort nach Haus‘ telefonieren.

Kommen wir kurz zurück auf Snowden, den Idealisten. Er hatte sicher keine Illusionen über die Reaktionen der Welt der Macher und Weltkontrolleure auf das, was er tun würde. Seine große Tat war die Überwindung der eigenen Angst. Das Aufbegehren ehrlicher Überzeugung gegen das zynische Business der Mächtigen hatte schon vor 500 Jahren Luther zum Whistleblower gemacht. Doch wenn wir heute der Angst des kleinen Mannes in uns Gehorsam leisten, dann werden wir Spione und dann müssen wir ja dem allen vorbeugen und das kontrollieren, wovor wir uns fürchten, wir müssen manipulieren, bekämpfen und uns absichern, müssen Ideale verraten und begraben.

Halten wir also der Angst stand, so wie Snowden mit seinen Koffern in das Flugzeug nach Hongkong stieg und seine Entscheidung hat aushalten müssen. Sehen wir zu, wie wir für unsere Mitmenschen und Mitwelt das Beste von uns und Ehrliches geben können. Erst wenn Prism in uns gestorben ist, kann es da draußen aufhören.

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